Die Dramaturgin Anne Verena Freybott befragt das Regieteam von Der Besuch der alten Dame
AVF: Juliane, was sehen wir auf der Bühne und warum habt ihr euch für diese Ausstattung entschieden?
JL: Für die Bühne haben wir uns am Anfang überlegt, was die zwei Kernorte des Stückes sind. Einmal den Bahnhof, quasi das Tor zur Kleinstadt, den alle passieren müssen, die dort ankommen und als zweites brauchten wir einen Multifunktionsraum, der verschiedene Zwecke erfüllt. Für diesen Raum haben wir uns die Frage gestellt, an welchen Orten Entscheidungen getroffen werden. Wie sieht so ein Ort aus? Was muss so ein Ort können? Im Großen kann man sich natürlich ein Parlamentsgebäude vorstellen oder ein Rathaus. Aber wo werden Entscheidungen in einer Kleinstadt getroffen, die nicht so wohlhabend ist? Im Stück wird dieser Ort als Theatersaal bezeichnet. Am Ende unserer Überlegungen sind wir auf eine Art Mehrzweckhalle gekommen, die einen Turnhallen-Vibe ausstrahlt. Dort trifft sich der Ort immer wieder zu unterschiedlichen Anlässen. Wahrscheinlich kann man die Weihnachtsaufführung der Schule dort anschauen, wahrscheinlich gibt es auch Sportunterricht - aber man kann auch feiern, Abstimmungen machen und vieles mehr. Das war die Grundidee.
AVF: Für welche Zeit habt ihr euch bei der Ausstattung entschieden? Oder ist es überzeitlich?
JL: Es ist nicht supermodern, vor allem ist alles ein bisschen in die Jahre gekommen. Man kann die Zeit nicht wirklich greifen. Vielleicht kommt es am nächsten an die 60er / 70er Jahre dran. In der Farbigkeit, und auch in der Mischung zwischen runden und eckigen Formen, habe ich mich ein bisschen vom Space Age inspirieren lassen. (Das Space Age war eine Zeit der Technikbegeisterung und des Zukunftsoptimismus in den 60er/ 70er Jahren.)
AVF: Wieso hat euch das Space Age als Inspirationsquelle interessiert?
JL: Ich fand die Zeit des Space Age vor allem im Bezug auf den Konflikt zwischen Kapitalismus und Sozialismus interessant und der war natürlich damals viel konkreter präsent als heute. Vor allem, weil das Geld in Der Besuch der alten Dame als heilsbringende Kraft auftritt, die alles kaufen kann, auch die Gerechtigkeit. Textlich war auch die Autorin Ayn Rand eine große Inspirationsquelle für uns. Sie ist im Kommunismus aufgewachsen, wurde aber später zur größten Befürworterin des Kapitalismus.
AVF: Sag doch nochmal konkret was zur Mehrzweckhalle. Von welcher Architektur seid ihr da ausgegangen?
JL: Bei der Halle hat uns die brutalistische Bauweise besonders inspiriert. Die klingt da irgendwie so mit und ist natürlich ganz maßgeblich für große Bauvorhaben, bei denen man sich fragt, wer da eigentlich im Mittelpunkt steht. Auf jeden Fall ist es nicht das Individuum, eher die große Maße. Der Brutalismus befördert eine Einheitsnorm für alle, die dann für jeden passen muss - aber natürlich nicht für jeden passen kann. Da kann man verstehen, dass man als Mensch aus der Norm ausbricht. Dann ist natürlich die große Frage, wohin man ausbricht. Und was die bessere Lösung ist?
AVF: Das sind anregende Überlegungen zum Bühnenbild, die sicher viele unserer Zuschauer*innen neugierig machen werden. Was erwartet uns denn im Kostümbild?
JL: Ins Original hat Dürrenmatt ein sehr markantes Kostümzeichen eingeschrieben. Nachdem Claire angeboten hat, für die Ermordung Ills viel Geld zu zahlen, lehnen das zwar alle ab - machen aber trotzdem schon mal Schulden. Im Original ist der Kauf von gelben Schuhen das Zeichen dafür, dass jemand Schulden gemacht hat. Nun kommt das Stück aber aus einer Zeit, in der es sehr kostspielig war, sich neue Schuhe zu kaufen. Es war eine Investition, die man nicht immer machte. Deswegen haben wir überlegt, welche heutigere Übersetzung man für diese Shopping-Lust finden kann. Wir sind auf eine Art Überkonsum von verschiedenen Dingen gekommen. Bei uns zeigt sich in einem starken Kontrast zwischen den Kostümen am Anfang und den Kostümen am Ende des Stücks. Die ersten Kostüme, die zu sehen sind, haben alle den gleichen Farbton und sind aus dem gleichen Material - Nessel. Das ist ein unbehandelter Baumwollstoff, der als Probestoff benutzt wird. Wenn man einen Schnitt ausprobieren oder die Proportionen überprüfen möchte, macht man einen Musterzuschnitt aus diesem einfachen, ungefärbten Nessel und erst nach den Korrekturen fertigt man das Endresultat aus dem teureren Stoff an, der dann auch eine Farbe hat oder andere spezifische Eigenschaften.Genau diesen Schritt vom Muster zum Endergebnis gehen wir in den Kostümen beim Besuch der alten Dame. Wir haben am Anfang die Nesseloptik, auch als Zeichen für etwas Unfertiges, für etwas, was im Prozess stecken geblieben ist und danach kommen dann die knalligen Farben und ausgefalleneren Formen dazu. Dazu passend haben wir auch ein ganz, ganz tolles Maskenbild, aber da möchte ich nicht zu viel verraten.
AVF: Könnte man sagen, das diese Verwandlung auch im Maskenbild vollzogen wird?
JL: Ja, absolut!
AVF: Aber das muss man sich dann ab 03. Oktober 2025 im Globe anschauen.
JL: Richtig.
AVF: Herzlichen Dank für das schöne Gespräch, liebe Juliane!
JL: Danke dir!
“Ich meine in was für einer Welt leben wir eigentlich, in der buntes, mit Zahlen bedrucktes Papier Freiheit bedeutet?!”
Der Lehrer
AVF: Marten, wir schreiben das Jahr 2025 – warum ist es eine gute Idee, Dürrenmatts Stück Der Besuch der alten Dame auf der Bühne zeigen?
MS: Weil es ja leider immer noch aktuell ist – auch wenn es mittlerweile 70jähriges Jubiläum hat. Die Summen sind vielleicht etwas größer geworden. Die Milliarde die Claire Zachanassian im Original verspricht wirkt etwas mickrig. Wir haben zwei draus gemacht. In Dürrenmatts Stück hat die Protagonistin vielleicht sogar berechtigte Gründe, das sei mal jetzt außen vorgelassen. Aber der Vorgang, dass wir Menschen haben, die sich mit ihrem Geld alles kaufen können, den haben wir ja heute auch noch zu beklagen. Die Summen werden größer, aber die Vorgänge sind die gleichen.
AVF: Was ist der Hauptfokus für dich bei dem Vorgang mit dem Geld, das scheinbar alles kann? Geht es dir hauptsächlich um die Einzelperson, die so reich ist, dass sie sich ihre private Gerechtigkeit auf? Oder mehr um die Gruppe von Menschen, die sich kaufen lässt und die sich hinter der Gruppe verstecken, um nicht als Individuum schuldig zu sein?
MS: Mich interessieren hauptsächlich zwei Punkte. Dass damit trotzdem eine Liebesgeschichte erzählt wird, die damit verbunden ist und die, wie ich finde, trotzdem sehr zart ist. Die aus einer großen Verletzung heraus kommt. Die erste Liebe und der große Verrat, der da mitschwingt. Und da herum dieses Dorf zu haben, das ständig sagt, sie wären besser als alle anderen, es aber natürlich nicht sind. Und ich finde, dass man sich ja ständig selbst erwischt, wenn man z. B. sagt, nein, ich beuge mich nicht komplett dem System. Und dann kauft man am Ende doch irgendwie das Nestlé-Produkt. Klar kann man sich auch fragen, wieviel Einfluss der Einzelne hat, aber irgendwie hält diese Kaufentscheidung ja auch jeden Tag das System mit am Leben. Und dieses Dorf geht ja am Ende an der eigenen Lüge kaputt. Und vor allem schicken sie damit einen Menschen in den Tod.
AVF: Es ist also eine Systemkritik, aber eben auch eine Kritik am Einzelnen, dass wir den Mut nicht haben auszusteigen. Wie zeigst du denn die handelnden Figuren? Zeigst du Individuen? Oder zeigst du die Masse?
MS: Ich glaube es ist eine Mischung aus beidem. Wir haben natürlich einerseits diese Masse, die aus einem Eigeninteresse heraus gegen das Individuum agiert. Wie heißt es in Macht und Masse von Elias Canetti? Er kommt ja am Ende zu dem Schluss, je größer eine Masse wird, desto dümmer wird sie auch. Das gemeinsame Ziel muss kleiner werden, damit es massenkompatibel ist. Das ist ohnehin von vorneherein das kleinste gemeinsame Ziel: Reichtum. Und trotzdem gibt es da drin auch Individuen mit montiert. Das ist wahrscheinlich am meisten noch im Lehrer aufgehoben, der eigentlich der ist, der bis zuletzt am ehesten noch mit dieser Schuldfrage umgeht und mit der Frage nach, für was für Werte wir trotzdem eigentlich stehen. Was auch immer so einen komischen Lokalpatriotismus hat, den man ja vielleicht auch aus kleinen Städten kennt. Wo man auch zurecht stolz auf seine Stadt sein kann und auf die Werte, die man da vertritt; und dann aber trotzdem die Menschen mit viel Geld die Entscheidungen treffen, denen man sich dann beugt.
AVF: Am Lehrer sieht man vielleicht am deutlichsten eine Entwicklung, die auf dem Weg in den Abgrund durchgemacht wird, oder?
MS: Genau.
AVF: Und jetzt einmal über diese Produktion hinausgedacht: Wie würdest du deinen Glauben ans Theater als gesellschaftlich relevante Kraft beschreiben? Mir geht es nicht um die eine Aussage, die ich mir dann nach dem Besuch einer Aufführung auf ein Küchenhandtuch sticke und aufhänge. Sondern allgemeiner gedacht: Was kann Theater?
MS: Ich gehe jetzt einfach von mir als Zuschauer aus: Wenn mich ein Abend berührt, dann erreicht er mich auch intellektuell. Und das ist auch der Weg, den wir hier trotzdem versuchen zu gehen. Der Abend berührt einen und darin kommt man dann auf die Frage, verdammt, das ist ja eigentlich total schrecklich, aber ich verstehe die Dame trotzdem. Und Alfred Ill ist auch kein durchweg positiver Mensch. Und ich glaube, dass man vielleicht im besten Fall mit sich in den Konflikt kommt und sich die Frage stellt, wie man selber handeln würde. Wenn sie dieses Geld angeboten bekommen – das zeigt ja leider die Geschichte – sind ja sehr viele Menschen bereit, sehr viel für Geld zu tun.
AVF: Danke dir, Marten, das klingt alles sehr spannend.
MS: Danke dir!